Immanuel Kants „Selbstzweckformel“

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
2. Hauptteil

__2.1 Merkmale von Kants „Kategorischem Imperativ“
__2.2 Kants „Selbstzweckformel“ im Überblick“
__2.3 Die Selbstzweckformel in der Anwendung
_……._2.3.1 Das Verbot des Selbstmordes
…….__2.3.2 Das Verbot eines falschen Versprechens
…….__2.3.3 Das Gebot der Kultivierung der eigenen Anlagen
…….__2.3.4 Das Gebot der Hilfe
…….__2.3.5 Fazit
3. Schlussbemerkung
4. Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Bei der Beschäftigung mit Ethik und Moral stößt man unwiderruflich auf die philosophischen Überlegungen von Immanuel Kant (1724–1804) und die von ihm proklamierte „Selbstzweckformel“. Diese ist Teil des „Kategorischen Imperativs“ (KI). Insgesamt formulierte Kant fünf Fassungen des kategorischen Imperativs. Einen maßgeblichen Beitrag zur Unterteilung der Formeln des kategorischen Imperativs leistete Herbert James Paton in seiner Schrift „Der kategorische Imperativ: eine Untersuchung über Kants Moralphilosophie“.

Unstrittig ist, dass die Überlegungen Kants rund um den kategorischen Imperativ auf geisteswissenschaftlichem Gebiet, speziell in der Ethik, sehr einflussreich sind. Für den momentan an der Humboldt Universität lehrenden Philosophen und Kant-Experten Volker Gerhardt, bei dem ich während meiner Uni-Zeit ein paar interessante Veranstaltungen besuchte, ist der kategorische Imperativ „das eingeschriebene Prinzip einer jeden Moral, die auf Begriffe gegründet ist.“1 Von den Kritikern des kategorischen Imperativs ist dagegen oft zu lesen, dass es sich bei diesem nur um eine bloße Leerformel handelt, wie der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860) einst feststellte, oder dieser rein formalistisch sei, wie sich aus der Kritik des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) an der kantischen Ethik schlussfolgern lässt.

Der kategorische Imperativ bzw. die kantische Ethik wird in der heutigen Forschung dem Nicht-Konsequentialismus zugeordnet, dem der Konsequentialismus gegenübersteht. Während die Vertreter letzterer Position (am weitesten verbreitet ist die utilitaristische Ethik) der Überzeugung sind, dass Handlungen allein danach zu beurteilen sind, wie erstrebenswert oder gut ihre Folgen sind, stellen die Vertreter der nichtkonsequentialistischen Ethik heraus, dass die (Vor-)Überlegungen zu einer Handlung wichtiger als deren Folgen sind. Für Kant ist am bedeutungsvollsten, welche Gesinnung bzw. Maxime hinter einer Handlung steht. Im Folgenden werde ich zunächst die wesentlichen Merkmale des von Kant formulierten kategorischen Imperativs kurz skizzieren und anschließend auf die von ihm formulierte „Selbstzweckformel“ zu sprechen kommen. Bezüglich der Anwendung der Selbstzweckformel gehe ich auch auf die vier berühmten Beispiele Kants ein.

Zur besseren Orientierung eine Grafik:

(Die obige Übersicht habe ich im Jahr 2007 im Rahmen eines von mir besuchten Philosophie-Seminares an der Humboldt-Universität zu Berlin erstellt.)

 

2. Hauptteil

2.1 Merkmale von Kants „Kategorischem Imperativ“

Kants ethische Überlegungen rund um den kategorischen Imperativ haben die philosophische Disziplin der Ethik bis in die heutige Zeit hinein maßgeblich geprägt und auch darüber hinaus eine nicht unerhebliche Wirkungsmacht entfaltet. Es stellt sich die Frage: Was soll der kategorische Imperativ Kants leisten? Dazu zitiere ich zunächst einmal eine prominente Fassung der dem kategorischen Imperativ zugeordneten Formeln aus der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten” (GMS): „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“2

Bereits an dieser Formel lässt sich erkennen, worauf Kant abzielt. Für ihn ist der kategorische Imperativ eine Art von universeller Orientierungsregel. Die Grundlage seiner Moralphilosophie ist also die Frage: Wie soll ich handeln? Der kategorische Imperativ ist in diesem Zusammenhang kein konkretes Handlungsziel, sondern ein universeller Maßstab, an dem die ethische Qualität des eigenen Handelns bewertet werden soll und der dazu verpflichtet, die eigene Handlungsorientierung und die der Mitmenschen in Übereinstimmung zu bringen. Für Kant steht das autonome, mit Vernunft3 und Wille4 ausgestattete Individuum im Mittelpunkt, das dazu fähig ist, sein Handeln selbst zu bestimmen. Um moralisches Handeln zu beschreiben, verwendet Kant Begriffe wie guter Wille, Pflicht und Maxime.

Für Kant ist der „gute Wille […] nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d.i. an sich gut“5. Mit anderen Worten: Der Zweck heiligt nicht die Mittel, sondern die Gesinnung bzw. Absicht des handelnden Menschen ist entscheidend. Demnach ist ein Handeln dann ein moralisches, „wenn es aus einem guten Willen erfolgt, der aber Pflichten benötigt, die ihrerseits irgendwie allgemein oder regelhaft sein müssen, also Maximen einschließen.“6 Diese Maximen (Prinzip des Wollens) sind laut Kant ein subjektiver bzw. persönlicher Grundsatz des Wollens eines bestimmten Menschen, der seine Maxime mittels des KI auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit zu überprüfen hat, da die Maxime nur dann moralisch richtig sei, wenn sie als ein objektives Gesetz gelten könne.

2.2 Kants „Selbstzweckformel“ im Überblick

Kants Formel des „Zweckes an sich selbst“ (Selbstzweckformel) lautet wie folgt:

„Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“7

Was will uns Kant damit sagen? Um darauf eine adäquate Antwort geben zu können, ist es zunächst einmal wichtig zu wissen, was Kant unter dem in der Selbstzweckformel genannten „Zweck“ überhaupt versteht. Dazu schreibt er, dass „das, was dem Willen zum objektiven Grunde seiner Selbstbestimmung dient, der Zweck“8 sei. Hinsichtlich seiner Überlegungen rund um den kategorischen Imperativ kommt Kant zu dem Schluss, dass es mehr als nur relative Zwecke gebe, nämlich Zwecke, die von allen vernünftigen Wesen notwendig bei ihren Handlungen zu verfolgen oder zu berücksichtigen seien – damit meint er absolute Zwecke, also Zwecke an sich.

Dagegen hätten relative Zwecke nur für uns selbst einen Wert, da diese nur den Wunsch oder das Streben nach einem noch nicht existenten Gegenstand oder Zustand bedeuten würden – also Zwecke, die wir uns empirisch setzen und die ausschließlich Mittel zur Befriedigung unserer eigenen Bedürfnisse seien. Beispielsweise der Wunsch, ins Kino zu gehen, oder das Bestreben, meine eigene Lebenssituation zu verbessern. Demgegenüber seien Zwecke an sich selbst objektive Zwecke, die unabhängig von subjektiven Interessen und Mittel-Zweck-Beziehungen einen absoluten Wert besäßen.

Kant unterscheidet im Bereich menschlicher Zwecksetzungen zwischen dem, was einen Preis hat, und dem, was eine Würde besitzt. Er führt aus, dass all jenes, was „sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, […] einen Marktpreis, [und] das, was, auch ohne ein Bedürfnis vorauszusetzen, einem gewissen Geschmacke, d. i. einem Wohlgefallen am bloßen zwecklosen Spiel unserer Gemütskräfte, gemäß ist, einen Affektionspreis [hat]; das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen innern Wert, d. i. Würde.“9 Hierbei unterscheidet Kant zwischen Sachen und Personen – unter letzterem versteht er autonome Vernunftwesen. Während für ihn eine Sache nur einen relativen Zweck, also einen Preis, hat, sind Personen Zwecke an sich selbst und besitzen Würde. Dabei kommt der Autonomie eine zentrale Rolle zu, denn nur sie sei „der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“10

Allein diese Autonomie würde dazu befähigen, moralische Gesetze frei und selbstbestimmt aufstellen und befolgen zu können. Ein Vernunftwesen bzw. eine Person wiederum würde entweder als Glied oder sogar als Oberhaupt, „wenn es gesetzgebend keinem Willen eines andern unterworfen ist“11, dem sogenannten Reich der Zwecke „sowohl der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich, als auch der eigenen Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag“12, angehören, „wenn es darin zwar allgemein gesetzgebend, aber auch diesen Gesetzen selbst unterworfen ist.“13

Das Reich der Zwecke resultiert für Kant aus der „systematischen Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze“14 und ist nur durch die Freiheit des Willens möglich. Doch damit dies auch zu gelingen vermag, bedarf es nach Kant der Einsicht, dass sowohl die eigene menschliche Existenz als auch die Existenz der anderen Vernunftwesen als etwas objektiv Wertvolles, als Zweck an sich verstanden wird.

2.3 Die Selbstzweckformel in der Anwendung

Nachdem ich im vorherigen Kapitel Kants Selbstzweckformel zu beschreiben versucht habe, gehe ich nun auf ihre Anwendung ein. Es stellt sich die Frage, was Kant mit der Selbstzweckformel aussagen wollte, dass man also niemals jemanden bloß als Mittel, sondern zugleich auch als Zweck behandeln solle. Interessant sind damit verbunden Kants vier berühmte Beispiele in der GMS:

2.3.1 Das Verbot des Selbstmordes

Kant argumentiert, dass ein potentieller Selbstmörder sich gemäß dem Begriffe der notwendigen Pflicht gegen sich selbst fragen müsse, „ob seine Handlung mit der Idee der Menschheit als Zwecks an sich selbst zusammen bestehen könne“15 und kommt zu dem Schluss, dass ein Mensch, der, „um einem beschwerlichen Zustande zu entfliehen, sich selbst zerstört, […] sich einer Person bloß als eines Mittels zur Erhaltung eines erträglichen Zustandes bis zu Ende des Lebens“16 bediene. Jedoch könne der Mensch in meiner Person nicht bloß als Sache bzw. Mittel gebraucht werden, da er ja zugleich auch immer Zweck an sich selbst sei. Damit unterstellt Kant also, dass der potentielle Selbstmörder sein eigenes Leben bloß als Mittel zum Erreichen einer wie auch immer gearteten Glückseligkeit (hier: die Erlösung vom leidvollen Leben durch Selbstmord) ansieht und nicht als Selbstzweck, womit er einen relativen Wert (Glückseligkeit) einem absoluten Wert (Der Mensch in meiner Person als Zweck an sich selbst.) vorzieht. Meint Kant damit vielleicht, dass es einen Wert gibt, den der Mensch noch höher als das eigene physische Leben zu schätzen hat?

Ja, nämlich den ihm als Vernunftwesen innewohnenden Wert der Würde (siehe Kapitel 2.2). Im konkreten Bezug auf den Selbstmord eines Menschen führt er in der Metaphysik der Sitten (MdS) aus, dass das Vernichten des Subjekts „der Sittlichkeit in seiner eigenen Person […] eben so viel [ist], als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach […] aus der Welt [zu] vertilgen, welche doch Zweck an sich selbst ist.“17 Damit verbunden präsentiert Kant ein praktisches Beispiel, das für das Verständnis der Selbstzweckformel äußerst dienlich ist:

“Sich eines integrierenden Teils als Organ berauben (verstümmeln), z. B. einen Zahn zu verschenken, oder zu verkaufen, um ihn in die Kinnlade eines andern zu pflanzen, oder die Kastration mit sich vornehmen zu lassen, um als Sänger bequemer leben zu können, u. dgl. gehört zum partialen Selbstmorde; aber nicht, ein abgestorbenes oder die Absterbung drohendes, und hiemit dem Leben nachteiliges Organ durch Amputation, oder, was zwar ein Teil, aber kein Organ des Körpers ist, z. E. die Haare, sich abnehmen zu lassen, kann zum Verbrechen an seiner eigenen Person nicht gerechnet werden; wiewohl der letztere Fall nicht ganz schuldfrei ist, wenn er zum äußeren Erwerb beabsichtigt wird.”18

Die vorhergehende Aussage Kants lässt den Schluss zu, dass der Körper des Menschen einen besonderen Status gegenüber anderen äußeren Sachen einnimmt. Doch was macht diesen so besonders? Seine bloße materielle Existenz? Nein, der Mensch als eine Kombination aus Sinnwesen und Vernunftwesen spielt die entscheidende Rolle. Tötet er sich nun selbst, dann zerstört er beides. Zur Vermeidung eines weiteren bzw. künftigen körperlichen Leidens opfert er seine Persönlichkeit bzw. die ihr innewohnende Würde als Preis für die Beförderung der eigenen Glückseligkeit (= Beendigung seines Leidens durch Selbstmord). Damit verkommt die Persönlichkeit bzw. Person des Menschen zu einem reinen Mittel zur Befriedigung seiner Glückseligkeit.

Und was ist daran so schlimm? Laut Kant ermöglicht nur die eigene Persönlichkeit dem Menschen, „sich als moralisches Subjekt zu verstehen und entsprechend zu handeln. Wenn es moralisch erlaubt wäre, die eigene Persönlichkeit nicht in allen Handlungen zugleich als Zweck an sich selbst zu respektieren, dann wäre es moralisch erlaubt, die Möglichkeit, moralisch zu sein, zu vernichten.“19 Auf der anderen Seite hält es Kant für legitim, zu Gunsten eines Zweckes wie der Selbsterhaltung Glieder des eigenen Körpers zu amputieren oder sich einer Lebensgefahr auszusetzen. Denn hier bliebe die Achtung der Persönlichkeit bzw. Würde des Menschen gewahrt. Kant geht es hierbei um etwas Grundsätzliches, nämlich um nichts anderes als das Grundgerüst seiner Ethik. Denn würde man durch Selbsttötung eine Selbstaufhebung der Freiheit, die ja bei Kant die Autonomie darstellt, zulassen, dann würde die Grundlage für die Moral bzw. Würde des Menschen, so wie sie Kant versteht, wegfallen. Es könnte nichts mehr moralisch begründet werden, da nunmehr die Verbindlichkeit der Moral entfällt.

Kant fragt nun, ob „beim Menschen die Freiheit, die der höchste Grad des Lebens ist und den Wert desselben ausmacht, ein Principium sein [soll], sich selbst zu zerstören? Dieses ist das Erschrecklichste, was sich denken läßt, denn wer es soweit gebracht hat, daß er jedesmal ein Meister über sein Leben ist, der ist auch Meister über jedes anderen sein Leben, dem stehen Türen zu allen Lastern offen, denn ehe man ihn habhaft werden kann, ist er bereit, sich aus der Welt wegzustehlen.“20 So wird deutlich, warum der Selbstmord im Sinne von Kants Ethik ein Problem darstellt. Denn mit dem Akt der Selbsttötung zerstört der Mensch das, was ihn zu einem selbstbestimmten Vernunftwesen macht, nämlich seine Autonomie, die es ihm ermöglicht, sich als Wesen der Freiheit zu begreifen und aus dieser Freiheit heraus zu handeln. Doch genau dieses Handeln aus Freiheit bedeutet nach Kant, dass man eben nicht alles tun kann, wonach es einem beliebt, sondern dass man sich selbst auch gewisse Grenzen im Handeln setzt (= Selbstgesetzgebung). Diesen Ansatz Kants halte ich für sehr wichtig, da deutlich gemacht werden soll, dass mit einem Handeln aus Freiheit auch immer Verantwortung für selbiges einhergeht.

Nehmen wir an, dass ich Selbstmordgedanken hege, weil ich mich in einer schwierigen oder ausweglos erscheinenden Lebenssituation zu befinden denke. Vielleicht habe ich gerade meinen Job verloren, zugleich ist meine Beziehung zu Bruch gegangen und ich habe einen enorm hohen Kredit zurückzuzahlen (Beispiel 1) oder ich leide an einer unheilbaren und schmerzverursachenden Krankheit (Beispiel 2). Solche Situationen können dem unmittelbar Betroffenen als äußerst tragisch und hoffnungslos erscheinen und in einzelnen Fällen vermag gar der Wunsch zu einer Selbsttötung heranreifen, wenn der Betroffene in Beispiel 1 den inneren und äußeren Druck, der auf ihm lastet, als überwältigend empfindet sowie in Beispiel 2 er keine Aussicht mehr auf ein lebenswertes Leben hat, sich also nichts mehr als ein schnelles Ableben erhofft und dieses dann auch aktiv herbeizuführen gedenkt.

Doch auch und gerade in solch tragischen und ausweglos anmutenden Situationen ist es ratsam, zunächst einmal eine Weile innezuhalten und zu hinterfragen, ob es nicht doch einen anderen Ausweg als die Selbsttötung gibt. In Beispiel 1 könnte dies bedeuten, sich zunächst Unterstützung bei guten Freunden (wenn vorhanden), Rat bei einem Psychologen und einer Schuldnerberatung zu holen. Auch in Beispiel 2 wäre es vorstellbar, dass man sich bei seelischen Leiden zunächst an vertraute Menschen (Lebenspartner, bester Freund etc.) wendet oder eine psychologische Beratung einholt und sich bei physiologischen Leiden wie Schmerz ausführlich darüber informiert, ob es medizinische Methoden gibt, die diese zu lindern imstande wären.

Auch sollte man in seine Überlegungen miteinbeziehen, was eine Selbsttötung für Konsequenzen für das soziale Umfeld bedeuten könnte. So z. B., wenn man eigene Kinder hat, die gerade aufwachsen und die mit dem Vater oder der Mutter, die sich aus einem vermeintlich unerträglichen Zustand durch Selbsttötung zu befreien gedenken, eine für ihre weitere Entwicklung bedeutende Vertrauensperson verlieren würden. Natürlich sind solche Überlegungen sehr abstrakt und jedes menschliche Schicksal ist ein Fall für sich. Ich will aber zum Ausdruck bringen, dass man sich bei noch klarem Verstande stets die Konsequenzen eigenen Handelns sowohl für einen selbst als auch andere stets vor Augen halten und nicht leichtfertig handeln sollte, schon gar nicht bei Entscheidungen über Leben und Tod.

Unabhängig davon gibt es sicherlich auch genügend Situationen, wo der Betroffene psychisch so krank ist, dass er die geschilderten Überlegungen nicht mehr durchzuführen imstande ist – hier greifen die ethischen Vorstellungen Kants aber nicht mehr, da bei einer solchen Person die Fähigkeit, autonom zu handeln, in Frage gestellt wäre. Dabei sei jedoch angemerkt, dass diese Beispiele natürlich keine exakte Auslegung der Überlegungen Kants zur Selbstzweckformel darstellen, sondern deutlich machen sollen, dass ich es für sehr wichtig erachte, dass man sich zumindest ernsthaft mit der Absicht, sich töten zu wollen, auseinandersetzt, wenn man dazu in der Lage ist.

Beispielsweise würde ich die Selbsttötung nicht grundsätzlich ablehnen, so wie es Kant tut. Zwar mag eine Selbsttötung gemäß seiner Überlegungen im Zusammenhang mit der von ihm formulierten Zweck-Mittel-Formel moralisch verwerflich sein. Doch stellen wir uns die Extremsituation vor, in der ein Mensch todkrank ist, die Krankheit seinen Körper nach und nach zerstört und man seine Schmerzen nicht bedeutend zu lindern imstande ist. Wie könnte man in dieser Extremsituation seine Entscheidung, sterben zu wollen, als moralisch verwerflich in Frage stellen? Schließlich gibt es auch rein rational keine Aussicht mehr für ihn, ein lebenswertes Leben zu führen.

Wenn der notwendige Antrieb bzw. das notwendige Mittel, wie die Lust am Leben bzw. der Selbsterhaltungstrieb, das ihn dazu bringt, das Weiterleben als höchsten Wert bzw. höchsten Zweck anzustreben, nicht mehr existiert: Wäre dann nicht eine Selbsttötung legitim? Es zeigt sich, dass die Überlegungen Kants zum Verbot des Selbstmordes gewisse Plausibilitätsprobleme aufweisen, da seine strengen metaphysischen Anforderungen an ein moralisch richtiges Handeln nur schwerlich 1:1 ins praktische Leben übertragbar erscheinen.

Damit verbunden ist ebenso auffällig, dass es Kant keineswegs gelingt, ausschließlich „eine reine Moralphilosophie zu bearbeiten, die von allem, was nur empirisch sein mag und zur Anthropologie gehört, völlig gesäubert wäre“21 und das System moralischer Pflichten „a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft“22 zu begründen, was seine Ausführungen zum Verbot des Selbstmordes recht gut veranschaulichen. Denn Kant setzt – natürlich zu Recht – die empirische Erkenntnis voraus, „daß der Mensch ein organisches Lebewesen ist, zu dessen Funktionieren Lust/Unlustempfindungen erforderlich sind; ferner daß dem Menschen Widrigkeiten zustoßen und diese sich zum Lebensüberdruß anwachsen können; nicht zuletzt, daß der Mensch verletzlich ist und sich selber töten kann.“23

2.3.2 Das Verbot eines falschen Versprechens

Ging es eben um die Pflicht gegen sich selbst, so kommt Kant nunmehr auf die Pflichten gegenüber anderen zu sprechen. Hier beschreibt er die Situation, in der sich jemand durch Not dazu genötigt sieht, von einem anderen Geld auszuleihen. Selbstverständlich ist sich derjenige, der das Geld zu leihen gedenkt, der Tatsache bewusst, dass er das Geld nur dann bekommt, wenn er fest verspricht, dass er dieses auch zurückzahlen wird. Obwohl er dies natürlich nicht können wird. Kant fragt sich nun, ob ein Handeln des Geldausleihers gemäß der Maxime, dass er das Geld ausleiht, obwohl er weiß, dass er es nicht zurückzahlen wird und doch eben dies dem Geldverleiher verspricht, recht sei, wenn man die Maxime zu einem allgemeinen Gesetz erheben würde.

Kant stellt fest, dass solch ein Vorsatz „das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen [würde], indem niemand glauben würde, daß ihm was versprochen sei, sondern über alle solche Äußerung als eitles Vorgeben lachen würde.“24 Moralisch von besonderer Bedeutung ist hierbei, dass der Geldausleiher in dem Wissen handelt, dass er dem Geldverleiher das ausgeliehene Geld nicht zurückzahlen kann und diesen damit bewusst belügt. Hierbei geht es Kant vor allem „um die Zustimmungsmöglichkeit des von meiner Handlung Betroffenen. Im Beispiel kann der andere nur der temporären und nicht der endgültigen Abhilfe meiner Geldnot zustimmen.“25 Ergänzend fügt Kant hinzu, dass hinsichtlich von Rechtsverstößen wie bei Angriffen auf das Eigentum und die Freiheit anderer ein Eingriff in die Freiheit des anderen noch deutlicher zu Tage treten würde.

Laut Kant kann das falsche Versprechen kein moralisch erlaubtes Mittel zur Erreichung eines pragmatischen Zieles sein, da das Wollen desjenigen, der es abgibt, nicht konsequent ist: „Er muß, um dieses Mittel gebrauchen zu können, wollen, daß die Erfüllung bestimmter Bedingungen allgemein unterstellt wird, und muß zugleich wollen, selbst genau diese Bedingungen nicht zu erfüllen: Er muß sich also die Ausnahme erlauben, das Privileg für sich in Anspruch zu nehmen, daß ein falsches Versprechen, das nicht als Versprechen gelten kann, ausnahmsweise als Versprechen gelten soll.“26

2.3.3 Das Gebot der Kultivierung der eigenen Anlagen

Im dritten Beispiel erläutert Kant eine weitere Pflicht gegen sich selbst. Er formuliert eine „Maxime der Verwahrlosung seiner Naturgaben“. So heißt es: „Ein dritter findet in sich ein Talent, welches vermittelst einiger Kultur ihn zu einem in allerlei Absicht brauchbaren Menschen machen könnte. Er sieht sich aber in bequemen Umständen und zieht vor, lieber dem Vergnügen nachzuhängen, als sich mit Erweiterung und Verbesserung seiner glücklichen Naturanlagen zu bemühen.“27 Was will uns Kant damit sagen? Seiner Ansicht nach ist es für jeden Menschen geboten, auch dann die Kultivierung der ihm innewohnenden Talente zu betreiben, wenn er sich in einer bequemen Situation befindet, die ihm erlaubt, sich nur seinem Vergnügen hinzugeben.

Anders als bei den Beispielen zum Verbot des Selbstmordes und des falschen Versprechens wird in diesem Fall jedoch nicht gleich die Persönlichkeit eines Menschen aufgehoben, wenn er der oben erwähnten Maxime nicht nachkommt. Denn Kant stellt fest, dass „eine Natur nach einem solchen Gesetze immer noch bestehen könne, obgleich der Mensch […] sein Talent rosten ließe und sein Leben bloß auf Müßiggang, Ergötzlichkeit, Fortpflanzung, mit einem Wort auf Genuß zu verwenden bedacht wäre; allein er kann unmöglich wollen, daß dieses ein allgemeines Naturgesetz werde, oder als ein solches in uns durch Naturinstinkt gelegt sei. Denn als vernünftiges Wesen will er notwendig, daß alle Vermögen in ihm entwickelt werden, weil sie ihm doch zu allerlei möglichen Absichten dienlich und gegeben sind.“28

Für Kant ist die Maxime der „Bequemlichkeit“ also deshalb unmoralisch, weil sie angeblich eine Inkonsistenz im Wollen darstellt. Nicht zu Unrecht wirft er die Fragestellung auf, ob es wirklich sinnvoll sein kann, sich ausschließlich vom glücklichen Verlauf äußerer Umstände abhängig zu machen, die uns ein Leben in Bequemlichkeit und Genuss ermöglichen. Kant wirft die Frage auf, ob die Menschen nicht vielmehr die zur Realisierung der Moral unerlässlichen Fähigkeiten, wie z. B. die Intellektualität, ausbilden und entwickeln sowie lernen [sollen], „sich Geschicklichkeit erwerben, […] sich Werkzeuge und weiterreichende Institutionen zu ihrer Entlastung und zur Steigerung ihrer Möglichkeiten schaffen“29 sollen. Kant erhebt hier den berechtigten Vorwurf der Fahrlässigkeit, der sich darauf gründet, „daß Menschen, wenn sie ihre menschliche Lebensweise, ihr Sein als weltoffene und bedürftige Wesen und die prinzipielle Unsicherheit ihrer Prognosen ernsthaft bedenken, konsequenter Weise auf Mittel ihrer Lebensführung und ihres unter allen Umständen vorhandenen Strebens nach Glückseligkeit nicht verzichten wollen können.“30 Doch da der Mensch auch dazu imstande ist, der Maxime zu folgen, seine Talente rosten zu lassen, ohne seiner Natur als rationalem Wesen zu widersprechen, zählt das Gebot der Kultivierung der eigenen Anlagen zu den unvollkommenen Pflichten, die zwar als allgemeine Gesetze gedacht, aber nicht widerspruchsfrei gewollt werden können.

Die Entwicklung der eigenen Anlagen dient laut Kant als Mittel zum Zwecke der sittlichen Vervollkommnung der gesamten Menschengattung. Hier kommen weitere Überlegungen Kants ins Spiel, die u.a. in der Kritik der Urteilskraft zu finden sind, wo es heißt, dass die „Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit) […] die Kultur [ist]. Also kann nur die Kultur der letzte Zweck sein, den man der Natur in Ansehung der Menschengattung beizulegen Ursache hat.“31 Dank eben jener Tauglichkeit vermag der Mensch Wissenschaft und Kunst hervorzubringen, die Teil der Kultur sind. Die kulturelle Entwicklung befähigt den Menschen dazu, sich dem Sittengesetz entsprechend zu verhalten, also seine moralischen Fähigkeiten zu entfalten und in Freiheit zu handeln.

Kant unterscheidet zwischen zwei Kulturen: nämlich einer „>>Cultur der Geschicklichkeit<<, in der sich der Mensch die äußere Voraussetzung zur Entfaltung und Durchsetzung seiner Ziele verschafft, und einer >>Cultur der Zucht (Disziplin)<<, in der man sich individuell zur höchsten Form der Sittlichkeit steigern kann […]. […] Die von der Natur vorgegebene Universalität wird durch die zweite Form der Kultur verstärkt […]. Diese […] ist die der individuellen Bildung, die nicht nur auf die äußeren Leistungen von Verstand und Vernunft bezogen ist, sondern auch die […] moralische Selbsterziehung einbezieht.“32 Dagegen gehört für Kant zur Kultur der Geschicklichkeit die Perspektive eines weltbürgerlichen Ganzen, also ein System aller Staaten.

Diese Überlegungen führte er im Aufsatz „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ aus dem Jahre 1784 weiter aus. Von zentraler Bedeutung bezüglich des moralischen Gehalts ist hierbei, dass die „<<Civilisirung>> durch das Recht […] bessere Bedingungen für die <<Moralisierung>> des Einzelnen [schafft]; die Entfaltung von Wissenschaft und Kunst fördert das moralische Empfinden und lässt somit erwarten, dass der Mensch empfänglicher für alles ist, was ihm die Sittlichkeit gebietet.“33

2.3.4 Das Gebot der Hilfe

Im Zuge dieses Beispiels hinterfragt Kant, ob es zur Sicherung und Verbesserung der eigenen Glückseligkeit ein zulässiges Mittel sein kann, anderen Menschen, die sich in Not befinden, nicht zu helfen oder nichts zu ihrem Wohlbefinden beizutragen. Und auch hier kommt er zu dem Schluss, dass gemäß einer solchen Maxime sehr wohl ein allgemeines Naturgesetz bestehen könne, es aber unmöglich wäre, zu wollen, dass ein derartiges Prinzip als Naturgesetz gelte. In Verbindung mit der Selbstzweckformel führt er aus, dass in Ansehung der Pflichten gegen andere die eigene Glückseligkeit der Naturzweck wäre, den alle Menschen hätten. Und weiter heißt es: „Nun würde zwar die Menschheit bestehen können, wenn niemand zu des andern Glückseligkeit etwas beitrüge, dabei aber ihr nichts vorsätzlich entzöge; allein es ist dieses doch nur eine negative und nicht positive Übereinstimmung zur Menschheit als Zweck an sich selbst, wenn jedermann auch nicht die Zwecke anderer, soviel an ihm ist, zu befördern trachtete.“34

Was will uns Kant damit sagen? Sicherlich nicht, dass individuelles Glücksstreben grundsätzlich verwerflich wäre. Vielmehr ist dieses die subjektive Bedingung dafür, sich etwas zum Zweck zu setzen. Dies steht in direktem Zusammenhang mit der zuvor erläuterten Pflicht der eigenen Vervollkommnung, da diese im Sinne Kants nicht grundsätzlich dem Streben nach eigener Glückseligkeit widersprechen darf. Warum? „Es kann wohl niemand verpflichtet werden, <<sich zum Zwecke seiner Vervollkommnung ins Unglück zu stürzen<< […]. Wenn nämlich Unzufriedenheit, Krankheit und Armut uns zu Zwecken hinreißen, die dem moralischen Gesetz widersprechen, bewahren uns Zufriedenheit, Gesundheit und finanzielles Auskommen, kurz: die eigene Glückseligkeit davor, uns solche Zwecke zu setzen.“35

Dabei ist es wichtig zu wissen, dass Kant zwei Arten der Glückseligkeit unterscheidet: Einerseits beschreibt er diese als einen dem Menschen zugehörigen Zustand, in dem sich dieser befindet. Dieser Begriff der Glückseligkeit ist empirisch begründet und beschreibt den Wunsch und Willen eines Menschen zur bestmöglichen Befriedigung bestimmter Neigungen. Andererseits spricht Kant von der Idee der Glückseligkeit, die a priori sei, und zwar eine Vorstellung des absoluten Glücks, ein Maximum des Wohlbefindens. Dies ist für ihn das höchste Gut, das niemals von einem Menschen erreicht werden kann. Dagegen ist die empirische Glückseligkeit etwas, das jeder Mensch für sein Leben erlangen will. Die eigene Glückseligkeit nun ist zwar ein Zweck, den jeder Mensch hat, der aber nie eine Pflicht ist.

Denn es wäre ja auch geradezu absurd, jemanden verpflichten zu wollen, einen Zustand der Zufriedenheit anstreben zu wollen. Vielmehr ist in der menschlichen Natur bereits angelegt, sich die eigene Glückseligkeit wünschen zu wollen. Dagegen ist die fremde Glückseligkeit ein Zweck, der zugleich Pflicht ist. Denn wenn durch „die allgemeine Beförderung >fremder Glückseligkeit< auch Zwecke unterstützt werden, die andere um ihrer >eigenen Vollkommenheit< willen verfolgen, ist die Beförderung >fremder Glückseligkeit< also schon wegen der Unterstützung der eigenen Vollkommenheit zur Pflicht zu erheben.“36

Kann denn ein rational denkender und bei klarem Verstande seiender Mensch in einer Lebenslage, in der er zwingend auf die Hilfe eines anderen Menschen angewiesen ist, wirklich wollen, dass er die Hilfe nur bekommen würde, wenn der andere Mensch zufällig gerade einmal Lust hätte, ihm diese zu leisten? Oder müsste er nicht vielmehr wollen, dass der Andere ihm in dieser Situation unabhängig von seiner Lust oder Unlust hilft? Letzteres ist – nicht zuletzt aus eigener Erfahrung heraus – weitaus plausibler. Da es aber gemäß einem allgemeinen Gesetz eine Nötigung bedeuten würde, den anderen dazu zu verpflichten, einem anderen Menschen in der Not zu helfen, kann ich der Maxime, meine eigene Glückseligkeit zu befördern, nur widerspruchslos wollen, indem ich in meine Glückseligkeit auch meine Mitmenschen einschließe. Denn schließlich könnte ich mich unter den geschilderten Voraussetzungen nur dann auf die Hilfe der anderen Menschen verlassen, wenn auch diese die Glückseligkeit in ihre Maxime aufnehmen.

Somit ist es mir nach Kant nur dann erlaubt, die eigene Glückseligkeit zum Zweck zu machen, wenn ich mir – auch wenn ich dazu weniger geneigt sein möge – zugleich die Glückseligkeit anderer zum Zweck mache. Dabei gilt jedoch die Einschränkung, dass jegliche „Form, sich auf diesem Wege an anderen zu bereichern und ihre Dankbarkeit zu erzwingen, […] darin ausgeschlossen [wird], ebenso wie das kommunikative Ausschlachten der eigenen Leistungen und Wohltaten. […] Die Unterstützung fremder Zwecke entbindet [zugleich] nicht von der kritischen Prüfung dieser Zwecke. Diese aber erweist es zum Beispiel als nicht tugendhaft, für einen anderen zu lügen oder seinen Rechtsbruch durch eine eidesstattliche Erklärung zu decken und aus Freundschaft sich an ein Schweigegebot gebunden zu fühlen, das ein Unrecht deckt.“37 Sich der Glückseligkeit würdig erweist sich der Mensch laut Kant nur dann, wenn er aus Pflicht handelt. Nur dann ist seine Handlung im Sinne des KI moralisch. Zwar lassen sich laut Kant Pflichten wie das Hilfsgebot sowie das Tötungs- und Lügenverbot grundsätzlich nicht konsequentialistisch, also von ihren Folgen her rechtfertigen: Dennoch hat man sich auch die Konsequenzen einer Handlung zu überlegen und ist dazu angehalten, stets zu hinterfragen, ob die beabsichtigte Handlung auch ein wirksames Mittel zum angestrebten Zweck ist.

2.3.5 Fazit

Bei der Auseinandersetzung mit den obigen Beispielen Kants stellte sich heraus, dass er zwei Arten der Überprüfung von Maximen unterscheidet: Einerseits das „nicht denken können“, andererseits das „nicht wollen können“. Er wollte aufzeigen, dass all jene Maximen, die wir nicht widerspruchsfrei denken oder wollen können, andere Menschen immer bloß als Mittel gebrauchen. Dabei unterscheidet er zwischen Pflichten gegen sich selbst (= Verbot des Selbstmordes; Gebot der Kultivierung der eigenen Anlagen) und Pflichten gegen andere (= Verbot eines falschen Versprechens; Gebot der Hilfe).

Die Tatsache, dass Kants Argumente in den Beispielen teilweise nicht in sich stimmig bzw. nicht nachvollziehbar sowie auf das praktische Leben bezogen oft unplausibel erscheinen und auch nicht ausschließlich a priori gelten, wie es ja seine Ansprüche rund um den kategorischen Imperativ implizieren, relativiert in keinster Weise die große Bedeutung seiner Überlegungen in moralischer Hinsicht. Denn alle Handlungen, die an der Selbstzweckformel orientiert sind, „bringen […] immer die Anerkennung und den Respekt eines existierenden absoluten Wertes zum Ausdruck. Es gibt etwas, das absolut wertvoll ist, und was absolut wertvoll ist, das zerstört oder verletzt oder beeinträchtigt man nicht, sondern das respektiert und achtet man.“38

Während es in einer konsequentialistischen Ethik stets darum geht, „wünschenswerte Zustände in einer optimierenden Weise hervorzubringen, wobei prinzipiell alles als Mittel zu diesem Zweck erlaubt sein kann“39, geht es in Kants „wertorientierter Ethik […] nicht (primär) um die Hervorbringung eines Zustandes, sondern um die Respektierung eines existierenden absoluten Wertes. Solche Werte setzen Grenzen, die auch mit Aussicht auf eine größere Summe von Glückseligkeit nicht verletzt werden dürfen.“40 Die Selbstzweckhaftigkeit eines jeden Menschen impliziert verbunden mit diesen Überlegungen zugleich, dass als Mensch „kein Arzt, kein Erzieher oder bedeutender Staatenlenker mehr wert sein [kann] als das geringste, scheinbar nutzloseste Mitglied der menschlichen Gesellschaft.“41

Am Beispiel des Verbots eines falschen Versprechens hat Kant sehr gut dargestellt, wie man zu erkennen imstande ist, was der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen widerspricht: nämlich eine Handlung, der nicht alle von ihr Betroffenen zustimmen können. Kants Leistungen im Rahmen der Selbstzweckformel liegen ebenso darin, dass er wesentliche Grundlagen für unser heutiges Verständnis von der Menschenwürde geschaffen hat, wie sie z. B. im deutschen Grundgesetz oder der UNO-Menschenrechtserklärung verankert ist. Darin wird Kants universalistischem Verständnis der Würde gefolgt. Würde kommt dem Menschen bereits als Mitglied der Gattung Mensch zu. Sie gilt für alle Menschen gleich, ohne dass dafür erst bestimmte Leistungen erbracht oder bestimmte Qualitäten erfüllt werden müssten.

3. Schlussbemerkung

Es ist deutlich geworden, dass Kants „Kategorischer Imperativ“ als eine Art universeller Orientierungsregel fungiert, an der die ethische Qualität des eigenen Handelns bemessen werden soll. Dies trägt für Kant die Verpflichtung in sich, die Maximen meines Handelns in einer Art von Gedankenexperiment stets auf ihre Universalisierbarkeit hin zu überprüfen, also zu hinterfragen, ob diese Maximen widerspruchslos als allgemeines Gesetz gedacht und gewollt werden können. Bei seinen Überlegungen zur Selbstzweckformel kommt Kant zu der Schlussfolgerung, dass eine Sache nur einen relativen Zweck, also einen Preis, hat, während Personen Zwecke an sich selbst sind und eine Würde besitzen. Er sieht also die eigene menschliche Existenz als auch die Existenz anderer Vernunftwesen als etwas objektiv Wertvolles, als Zweck an sich an.

Was genau er unter der Selbstzweckhaftigkeit versteht, versucht Kant mittels mehrerer Beispiele exemplarisch darzustellen. Er unterscheidet hierbei zwischen Pflichten gegen sich selbst (= Verbot des Selbstmordes; Gebot der Kultivierung der eigenen Anlagen) und Pflichten gegen andere (= Verbot eines falschen Versprechens; Gebot der Hilfe). Kritisch anzumerken im Zusammenhang mit dem KI und Kants aufgeführten Beispielen ist, dass er seinem eigenen Anspruch, nämlich eine von empirischem Wissen vollkommen befreite Moralphilosphie zu begründen, deren System moralischer Pflichten sich a priori aus Begriffen der reinen Vernunft speist, nicht gerecht werden kann und seine Ausführungen mit Blick auf das praktische Leben teilweise unplausibel und realitätsfern wirken.

Dennoch ist es Kant recht überzeugend gelungen, mittels seiner Überlegungen zur Selbstzweckhaftigkeit eines jeden Menschen die Bedeutung der Achtung und Anerkennung der Würde des Gegenübers herauszuarbeiten. Als ein wesentliches Mittel zum Zwecke der sittlichen Vervollkommnung der gesamten Menschengattung dient laut Kant die Entwicklung der eigenen Anlagen, die den Menschen in die Lage versetzt, Wissenschaft und Kunst hervorzubringen. In der Endkonsequenz befähigt erst diese kulturelle Entwicklung den Menschen dazu, seine moralischen Fähigkeiten zu entfalten und in Freiheit zu handeln.

4. Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen:

Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten., In: ders., “Werke in zwölf Bänden”, Bd. 8, Hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1968.

Kant, Immanuel: Eine Vorlesung über Ethik, Mit einer Einleitung von Paul Menzer, Herausgegeben von Gerd Gerhardt, Frankfurt am Main 1990.

Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hrsg. v. T. Valentiner u. eingel. v. H. Ebeling, Stuttgart 2004.

Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, In: ders., “Werke in zwölf Bänden”, Bd. 10, Hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1968.

Literatur:

Esser, Andrea Marlen: Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart, Stuttgart 2004.

Fischer, Peter: Moralität und Sinn. Zur Systematik von Klugheit, Moral und symbolischer Erfahrung im Werk Kants, München 2003.

Gerhardt, Volker: Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002.

Höffe, Otfried: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main 1993.

Leist, Anton: Die gute Handlung. Eine Einführung in die Ethik, Berlin 2000.

Schönecker, Dieter / Wood, Allen W.: Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Paderborn 2002.

Schwartz, Maria: Der Begriff der Maxime bei Kant, Berlin 2006.

Fußnoten:

  1. Gerhardt, Volker: Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002, S. 222.
  2. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hrsg. v. T. Valentiner u. eingel. v. H. Ebeling, Stuttgart 2004, S. 68.
  3. Anm.: Nach Kant ist die Vernunft (als oberstes Erkenntnisvermögen) das Vermögen der Ideenbildung, die geistige Fähigkeit des Menschen, alle Einzelerfahrungen auf regulative Ideen wie »Welt«, »Seele« usw. hin zu orientieren und sie dadurch zu einer Gesamterfahrung zusammenzuschließen, vereinfacht gesagt also die Fähigkeit des menschlichen Geistes, universelle Zusammenhänge in der Welt sowie deren Bedeutung zu erkennen und nach diesen zu handeln.
  4. Anm.: Der Wille ist für Kant „ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als praktisch notwendig, d.i. als gut, erkennt.“ (Kant, GMS, S. 56)
  5. Kant, GMS, S. 29.
  6. Leist, Anton: Die gute Handlung. Eine Einführung in die Ethik, Berlin 2000, S. 251.
  7. Kant, GMS, S. 79.
  8. Ebd. S. 77.
  9. Ebd. S. 87.
  10. Ebd. S. 89.
  11. Kant, GMS, S. 86.
  12. Ebd. S. 85.
  13. Ebd. S. 86.
  14. Ebd. S. 85.
  15. Kant, GMS, S. 79.
  16. Ebd. S. 79-80.
  17. Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten., In: ders., “Werke in zwölf Bänden”, Bd. 8, Hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1968, S. 555.
  18. Ebd. S. 555.
  19. Fischer, Peter: Moralität und Sinn. Zur Systematik von Klugheit, Moral und symbolischer Erfahrung im Werk Kants, München 2003, S. 225.
  20. Kant, Immanuel: Eine Vorlesung über Ethik, Mit einer Einleitung von Paul Menzer, Herausgegeben von Gerd Gerhardt, Frankfurt am Main 1990, S. 226.
  21. Kant, GMS, S. 21.
  22. Ebd. S. 22.
  23. Höffe, Otfried: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main 1993, S. 211.
  24. Kant, GMS, S. 70.
  25. Schwartz, Maria: Der Begriff der Maxime bei Kant, Berlin 2006, S. 80.
  26. Fischer S. 229.
  27. Kant, GMS, S. 70.
  28. Ebd. S. 70-71.
  29. Fischer S. 230.
  30. Fischer S. 230.
  31. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, In: ders., “Werke in zwölf Bänden”, Bd. 10, Hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1968, S. 390.
  32. Gerhardt S. 260-261.
  33. Ebd. S. 261-262.
  34. Kant, GMS, S. 81.
  35. Esser, Andrea Marlen: Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart, Stuttgart 2004, S. 341.
  36. Ebd. S. 341.
  37. Esser S. 343-344.
  38. Schönecker, Wood S. 150.
  39. Ebd. S. 150.
  40. Ebd. S. 150.
  41. Gerhardt, Volker: Ist jedes Leben gleich viel wert?, In: sueddeutsche.de, Ressort: Wissen, 12.10.2007 (http://www.sueddeutsche.de/wissen/ethik-ist-jedes-leben-gleich-viel-wert-1.830750).