Der historische Sokrates

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
2. Hauptteil

__2.1 Die wichtigsten historischen Quellen zu Sokrates
__2.2 Wer war der historische Sokrates?
_……._2.2.1 Die Apologie – Zeugnis der Philosophie des Sokrates
…….__2.2.2 Xenophon als aussagekräftiger Augenzeuge?
…….__2.2.3 Die große weltgeschichtliche Wirkung des Sokrates
3. Schlussbemerkung
4. Quellen- und Literaturverzeichnis

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1. Einleitung

In diesem Beitrag werde ich zu beantworten versuchen, wer der historische Sokrates war, der als bedeutender, der griechischen Antike entstammender, Philosoph gilt. Zwar gibt es eine Vielzahl von Literatur über ihn, jedoch ist nicht annähernd eine einheitliche und in sich konsistente Darstellung der Person des Sokrates zu finden. Anstatt dessen existieren die unterschiedlichsten Urteile über ihn. Da er selbst nichts Schriftliches hinterließ, kann nur das untersucht werden, was über ihn geschrieben wurde. Damit verbunden lässt sich feststellen, dass Sokrates insbesondere eine Gestalt der Philosophiegeschichte ist, „dessen Idealgestalt […] für die Geistesgeschichte wesentlicher als die Kenntnis historischer Fakten“[1] ist. Dagegen soll im Rahmen dieses Beitrags „die Problematik des historischen Sokrates“[2] untersucht werden, das sogenannte sokratische Problem. Das, was wir heute über Sokrates wissen, geht vor allem auf vier bedeutende Quellen zurück: auf den Philosophen Platon, den Schriftsteller Xenophon, den Komödiendichter Aristophanes sowie den Philosophen und Platon-Schüler Aristoteles. Während Xenophon mit Sokrates in seinen Schriften Memorabilien und Gastmahl „einen allzu gewöhnlichen Verteidiger der konventionellen Moral [präsentiert], [stellt] […] Platon einen Meisterphilosophen […] [dar], dem er alle eigenen philosophischen Entdeckungen in den Mund legt. Aristophanes karikiert Sokrates in seinem Stück »Die Wolken« als naturphilosophisch orientierten Atheisten, als sophistischen Wortverdreher und als spitzfindigen Widerlegungskünstler; bei Aristoteles erscheint Sokrates als jemand, der selbst nichts zu wissen vorgibt und daher stets nur Meinungen prüft.“[3] Diese in den Quellen so unterschiedlich gezeichneten Sokrates-Bilder finden dann auch in der darauf basierenden Forschungsliteratur ihren Niederschlag, wobei in der heutigen Sokrates-Forschung „den Schriften des jungen Platon […] einhellig der größte Quellenwert zugebilligt“[4] wird. Das könnte darin begründet sein, „dass Platon die beiden Seiten des Sokrates, die bei Aristophanes und Xenophon zur grotesken Fratze auf der einen und zum nahezu völlig spannungslosen Prediger auf der anderen Seite auseinander gelegt sind, virtuos zusammenführt.“[5] Im Folgenden werde ich zunächst auf die wichtigsten Quellen und anschließend auf die Forschung zum historischen Sokrates eingehen, um dann herauszuarbeiten versuchen, wer Sokrates wirklich gewesen war. Abschließend folgt mein Resümee.

2. Hauptteil

2.1 Die wichtigsten historischen Quellen zu Sokrates

Die Tatsache, dass Sokrates selbst wohl ausschließlich über das gesprochene Wort wirkte sowie über seine Person und sein Leben ausschließlich von anderen etwas geschrieben wurde, lässt die drängende Frage aufkommen, ob es denn ernst zu nehmende historische Zeugnisse über ihn gibt. An Literatur über Sokrates mangelt es gewiss nicht, jedoch tritt er oft als eine literarische Figur in Erscheinung, deren historischer Hintergrund als fragwürdig erscheint. Nicht selten wurde Sokrates mit Jesus von Nazareth, „den Stifter des Christentums, in Vergleich gebracht, dessen Leben und Werk ja ebenfalls nicht durch unmittelbare Geschichtsquellen, sondern lediglich durch die Glaubenszeugnisse der verschiedenen Richtungen in der christlichen Urgemeinde faßbar werden.“[6] Dieser Vergleich ist in der Literatur beispielsweise im Emil des Philosophen Jean-Jacques Rousseau zu finden, wo u.a. steht: „Sokrates segnet, während er den Giftbecher ergreift, den Gefangenenwärter, welcher ihm denselben unter den Tränen darreicht. Jesus betet unter den furchtbarsten Todesqualen für seine entmenschten Henker. Ja, wenn Sokrates Leben und Tod eines Weisen würdig sind, so erkennen wir bei Christo das Leben und den Tod eines Gottes.“[7] Dieser Rousseausche Sokrates-Jesus-Vergleich ist nichts anderes als die Fortsetzung einer Tradition: Denn im 15. Jahrhundert war es der florentinische Philosoph Marsilio Ficino, der im „Rahmen des neuplatonischen Programms, den Platonismus als allegorischen Ausdruck der christlichen Wahrheit zu interpretieren, […] detaillierte Parallelen zwischen den Verfahren gegen Sokrates und Jesus und dem Tod beider“[8] zog, während der bedeutende Humanist Erasmus von Rotterdam diese Tradition „durch einen Vergleich zwischen Jesus im Garten Gethsemane und Sokrates in seiner Gefängniszelle fortsetzt[e].“[9] Solche Sokrates-Bilder speisten sich nicht nur aus den jeweiligen religiösen Vorstellungen, sondern auch und gerade aus der schwierigen Quellenlage. Doch was für Quellen könnten mehr Licht ins Dunkel darüber bringen, wer der historische Sokrates war? Den engeren Kreis der historischen Quellen zur Person des Sokrates bilden zweifelsohne die früheren Dialoge des Philosophen Platon sowie Xenophons sokratische Schriften, vor allem die Memorabilien, wobei seitens der heutigen Forschung der Quellenwert letzterer als weitaus geringer als ersterer eingestuft wird. Das liegt wohl insbesondere darin begründet, dass Xenophon „bei der Gestaltung seiner sokratischen Dialoge ausgiebig auf literarische Vorlagen zurückgriff und der Sokrates des Militärs und Gutsherren Xenophon sich auffallend stark für Strategik und Ökonomie interessiert.“[10]

Dagegen wird oft zugunsten von Platon argumentiert, dass „er seit seinem zwanzigsten Lebensjahr zum engsten Umfeld des Sokrates gehörte, bis zu dessen Tod acht Jahre später sein Schüler blieb (Diog.Laert. III, 6) und seine ersten sokratischen Schriften spätestens in den Neunzigerjahren des 4. Jahrhunderts verfasste.“[11] Dies war jedoch nicht immer so. Noch bis ins 19. Jahrhundert hinein herrschte die Auffassung vor, dass Xenophon als selbst bekennender Historiker die einzige maßgebliche Quelle für die historische Person des Sokrates darstelle. Doch spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts steht fest, dass die „xenophontischen Sokratika […] eine literarisch-fiktive Darstellung des Sokrates geben, die ihrerseits wieder weitgehend aus literarisch vorgeprägtem Material geschöpft ist, wie es die Sokratiker und ihre Gegner bald nach Sokrates‘ Tode in Fülle produziert haben.“[12] Erst nach Mitte des 20. Jahrhunderts richtete die moderne Sokratesforschung ihren Blick verstärkt auf Platons Schriften, was wohl vor allem L. Campbell und W. Dittenberger zu verdanken ist, die, „unabhängig voneinander, die Methode der Sprachenstatistik entdeckt und mit Erfolg auf die Datierung der platonischen Schriften angewandt“[13] haben, womit an die „Stelle willkürlicher und weit voneinander abweichender Anordnungsschemata […] eine im wesentlichen gesicherte chronologische Einteilung des Gesamtwerks in Früh-, Mittel- und Spätschriften“[14] trat. Das eröffnete eine völlig neue Perspektive auf die historische Entwicklung des platonischen Denkens, was auch sehr bedeutend für die Herausarbeitung des historischen Sokrates aus den Schriften Platons war. Immer mehr gewannen dessen frühe Schriften für die heutige Forschung an Bedeutung: Es folgte eine „Reduktion der Textbasis auf die Dialoge Kriton, Ion, Hippias minor und auf die Apologie, die als wichtigstes Zeugnis angesehen wird.“[15] Abgesehen von der – aus Sicht der neuesten Forschung zugunsten von Platon beantworteten – Frage, ob nun den platonischen oder aber den xenophontischen Schriften ein größerer Quellenwert bei der Suche nach dem historischen Sokrates zukommt, präsentieren uns die beiden antiken Autoren stark voneinander abweichende Sokrates-Darstellungen.

So schildert ihn Platon „als geniale Persönlichkeit […], als großen Ironiker und Erotiker, vor allem aber als großen Denker, dessen Philosophie, von einem ethisch ausgerichteten elenktisch-aporetischen Denkansatz ausgehend, mannigfaltige Wandlungen und Veränderungen erfährt, bis sie schließlich im ontologischen Konzept der Ideenmetaphysik ihre Erfüllung findet.“[16] Dagegen war Sokrates laut Xenophon lediglich ein „geistig bemühter, im Grunde aber unphilosophischer athenischer Durchschnittsbürger, der unverändert zu einer Ethik der Mäßigung und der Selbstgenügsamkeit aufruft und […] über allerlei praktische Fragen aus Ökonomie, Landbau, Finanz- und Militärwesen besonnenen Rat zu erteilen vermag.“[17] Neben den beiden eben genannten Hauptquellen der beiden Sokrates-Schüler sind die von dem Komödiendichter Aristophanes verfasste und im Jahre 423 v.Chr. auf die Bühne gebrachte Satire Die Wolken sowie einige Bemerkungen von Aristoteles über Sokrates zu nennen. Aristophanes lässt Sokrates „als orphisch-pythagoreischen Bettelpriester [in Erscheinung treten] […], der in geheimer Denkerstube seine Schüler durch naturphilosophische Spekulation zu Atheisten erzieht und gegen Bezahlung Unterweisung in den rechts- und gesetzwidrigen Praktiken der sophistischen Rhetorik erteilt.“[18] Bemerkenswert ist, dass das Theaterstück bereits ähnliche Vorwürfe gegen Sokrates zur Geltung kommen ließ, die auch die im Jahre 399 v.Chr. im Prozess gegen Sokrates vorgetragenen Anklagepunkte beinhalteten. So zum Beispiel die Anschuldigung, dass „er einem die Worte im Munde herum[drehe], […] Recht zu Unrecht [mache] und […] damit die Jugend gegen die Eltern und hergebrachten Sitten auf[bringe]“[19]. Für Aristophanes ist Sokrates in den Wolken sozusagen „einer der aufklärerischen, für die Polis gefährlichen ionischen Naturphilosophen und sophistischen Begriffskünstler.“[20] Aus den Schriften des Aristoteles, der das Wirken des Sokrates zwar nicht mehr persönlich erleben konnte, da er erst zehn Jahre nach dessen Tod das Licht der Welt erblickte, sich aber auf Zeitzeugen wie seinen Lehrer Platon berufen konnte, ist schließlich zu entnehmen, dass „Sokrates zwar […] nach allgemeinen Begriffen für sittliche Tugenden [suchte], […] sie aber nicht als Ideen mit einer eigenen, von den Sinnesdingen unabhängigen Existenz verdinglicht[e] (Metaphysik XIII 4 und 9).“[21] Abschließend lässt sich bezüglich der Quellenproblematik nicht nur feststellen, dass alle vier zuvor aufgeführten historischen Quellen teils unterschiedliche Aussagen zur Person des Sokrates treffen, sondern auch „aus einer recht unterschiedlichen Perspektive ihr Bild des Sokrates [zeichnen]: Aristophanes schildert Sokrates in seiner Lebensphase als Mittvierziger; Platon war nur mit dem älteren Sokrates zusammen; Xenophon mußte sich für die letzten Lebensjahre und den Prozeß des Sokrates vor allem auf die Schilderungen anderer verlassen; Aristoteles war sogar ganz auf Berichte anderer angewiesen.“[22] Diese Quellensituation macht es nahezu unmöglich, eine gesicherte Aussage darüber zu treffen, was die Person des Sokrates in all ihren Facetten auszeichnete. Ein durchaus realistischer Anspruch ist es jedoch, sich einer Antwort auf die Frage zu nähern, wer der historische Sokrates war, weshalb nun versucht werden soll, die dafür relevanten Informationen herauszuarbeiten.

2.2 Wer war der historische Sokrates?

Der außergewöhnlichen Wirkung, die die Person des Sokrates auf viele seiner Zeitgenossen ausübte und die bis in die heutige Zeit hinein lebendig geblieben ist, stehen nur wenig gesicherte Informationen über dessen Philosophie und Leben gegenüber. Es ist davon auszugehen, dass er „im Jahr 469 v.Chr., vielleicht aber auch erst ein Jahr später, im attischen Demos Alopeke geboren wurde, dass sein Vater der Steinmetz oder Bildhauer Sophroniskos, seine Mutter wahrscheinlich die Hebamme Phainarete war. Des Weiteren wissen wir, dass er mit Xanthippe, darüber hinaus vielleicht auch mit einer Frau namens Myrto, verheiratet und Vater der drei Söhne Lamprokles, Sophroniskos und Menexenos war. Schließlich wissen wir, dass Sokrates im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts wirkte […]. Die meisten weiteren biographischen Daten beziehen sich auf seinen Kriegsdienst.“[23] Sokrates‘ philosophisches Wirken fällt in die Zeit des Peloponnesischen Krieges (431 – 404 v.Chr), an dem er sich auch selbst mindestens dreimal aktiv beteiligte. Dazu zählen der „Feldzug gegen Poteidaia (431-429) sowie die Kämpfe beim Apollonheiligtum auf Delos (424) und bei Amphipolis (422). (Pl.Lach. 181B; Apol. 28; Symp. 219e-221c).“[24] Während aus dem Zeitraum zwischen 423 – 406 v.Chr. nichts relevantes über das Leben des Sokrates bekannt ist, tritt er in den Quellen im Jahre 406 v.Chr. wieder in Erscheinung, als man ihn per Los zum Mitglied der Ratsversammlung wählte. So heißt es unter anderem bei Xenophon, dass Sokrates „einmal Ratsherr gewesen [war] und […] den Bouleuteneid geschworen [hatte], in dem stand, er werde sein Amt nach den Gesetzen verwalten.“[25] Im sogenannten Arginusenprozess soll er in der Rolle des Ratsherrn vergeblich Widerstand gegen einen ungesetzlichen Volksbeschluss geleistet haben. Schließlich taucht Sokrates wieder im Jahre 404 v.Chr. auf, „also in der Zeit unmittelbar nach dem Krieg, als Sparta den Athenern das Regime der so genannten >>Dreißig Oligarchen<< aufgezwungen hatte. (Pl.Apol. 32c-d; Epist. VII, 324d-325a; Xen.Mem. IV, 4, 3; Hell. II, 3, 39)“[26] In diesem Zusammenhang ist den Quellen zu entnehmen, dass Sokrates von den Dreißig befohlen wurde, im Rahmen einer Expedition einen unbescholtenen Bürger namens Leon gewaltsam herbeizuschaffen, damit dieser hingerichtet werden könne. Doch laut Platon gehorchte er „ihnen einfach nicht und riskierte lieber das Ärgste, als daß er bei ihren schlimmen Handlungen mitgewirkt hätte“[27].

Doch auch nach dem Sieg der Demokraten über das von Sparta abhängige Terrorregime der Dreißig im Jahre 403 v.Chr. und der Wiedereinsetzung der athenischen Demokratie hatte Sokrates keinen leichten Stand, da er „für den moralischen und geistigen Niedergang Athens mitverantwortlich gemacht“[28] wurde und schließlich im Jahre 399 v.Chr. infolge einer Verurteilung seitens eines athenischen Gerichtshofes wegen angeblicher Asebie (Gottlosigkeit) und des Verderbens der Jugend durch den Schierlingsbecher den Tod fand. Doch was gibt es über diese weitestgehend gesicherten biographischen Daten hinaus vom historischen Sokrates zu berichten? Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst geklärt werden, warum nur bestimmte Schriften des wohl wichtigsten Zeitzeugen, nämlich Platon, als wertvolle historische Quelle über die Person des Sokrates anzusehen sind. Der wichtigste Ansatzpunkt dabei ist, Platons Schriften daraufhin zu prüfen, wo ihm Sokrates praktisch nur oder fast ausschließlich als Sprachrohr eigenen philosophischen Gedankenguts dient und wann dies nicht oder weitaus weniger der Fall ist. In der heutigen Sokrates-Forschung ist damit verbunden vor allem die Beantwortung der Frage wesentlich, „ob Sokrates tatsächlich die Definitionsfrage auf dem Feld des Ethischen eingeführt hat, die im Zentrum von vier Frühdialogen steht. Die Schwierigkeit liegt darin, dass die Problemstellung, die Sokrates dort mit der so genannten Was-ist-X-Frage einführt, die platonische Ideenlehre sowohl sachlich als auch terminologisch vorbereitet.“[29] Aristoteles, Xenophon und Platon berichteten übereinstimmend in ihren Schriften davon, dass Sokrates die Frage stellt, was man als ethisch bezeichnen kann, „um ethische Wesensbestimmungen zu gewinnen. Wie man sich in der Quellenfrage im Einzelnen auch entscheiden möchte, schließlich geriet man immer wieder an ein Zeugnis, das Sokrates als ethischen Begriffsphilosophen auszuweisen schien.“[30] Dies galt lange Zeit als Communis opinio in der Sokratesforschung. Es war schließlich der Sokratesforscher Heinrich Maier, der zu zeigen versuchte, dass der „xenophontische Sokrates von Antisthenes und Platon abhängig ist und sich alle aristotelischen Zeugnisse wiederum auf Platon und Xenophon zurückführen lassen.“[31] Das ließ ihn schlussfolgern, dass „nicht Sokrates, sondern Platon der >>Entdecker des Allgemeinen<< war und es Sokrates hingegen um eine >>normativ-kritische Reflexion<< auf das Tun und Leben der Menschen ging.“[32] Und tatsächlich ist es sehr wahrscheinlich, dass Aristoteles auf der Suche nach dem historischen Sokrates nicht auf die eine authentische Überlieferung zurückgriff, sondern sich auf eine der verschiedenen Sokratesauffassungen stützte, mit denen sich auch die heutige Forschung konfrontiert sieht. Anders wäre es, wenn er von Platon persönlich in mündlicher Form etwas über Sokrates erfahren hätte. Doch dass dies eher auszuschließen ist, lässt sich gerade eben aus seiner Behauptung herauslesen, „dass [es] zweierlei vornehmlich ist […], was man mit Recht dem Sokrates als sein Verdienst anrechnen darf: das induktive Verfahren und die begriffliche Bestimmung des Allgemeinen.“[33] Man beachte hier, dass der „Satz […] im Potentialis [steht], wodurch die Satzaussage in ihrer Gewißheit eingeschränkt wird. Der Grund für diese vorsichtige Ausdrucksweise wird genannt: Das Adverb [vornehmlich] […] zeigt an, daß es andere Erklärungsversuche gab, die Aristoteles als unzutreffend verwirft und korrigiert.“[34]

Damit aber kann die Aussage des Aristoteles nicht mehr historische Glaubwürdigkeit für sich in Anspruch nehmen als all die anderen modernen Lösungsversuche. Aristoteles dürften also hauptsächlich Platons Dialoge und Xenophons Memorabilien als Quelle für seine Ausführungen gedient haben. Bei Xenophon wiederum wissen wir, dass er ausschließlich in seinen Memorabilien darauf zu sprechen kommt, und dass auch nur an zwei Stellen (im ersten und vierten Buch), dass Sokrates sich die Definitionsfrage nach dem Wesen des Ethischen stellt. Während also in einigen frühen Dialogen Platons diese Frage ins Zentrum sokratischen Denkens rückt, wird sie bei Xenophon nur am Rande erwähnt. Doch das ist nicht alles: Denn mittlerweile hat die Forschung „nachgewiesen […], daß Xenophon bei der Abfassung seiner Sokratika auf Schritt und Tritt gedankliche und literarische Anleihen und Entlehnungen bei anderen Sokratikern vorgenommen hat.“[35] Beim inhaltlichen Vergleich von Xenophons Memorabilien mit den platonischen Dialogen fallen deutliche Parallelen ins Auge. Ein Beispiel: Noch im ersten Buch seiner Memorabilien sagt er von Sokrates, dass sich dieser bezüglich der Definitionsfrage nach dem Wesen des Ethischen „immer nur über die menschlichen Dinge [unterhielt] und forschte, was fromm, was göttlich, was schön, was häßlich, was gerecht, was ungerecht, was Sophrosyne, was Verzückung, was Tapferkeit, was Feigheit, was Staat, was Staatsmann, was Herrschaft über Menschen, was ein Herrscher über Menschen sei.“[36] Mit dieser Einschätzung bezieht Xenophon die bereits erläuterte Definitionsfrage, „die er im vierten Buch auf den gesamten ontologischen Bereich bezogen wissen wollte, jetzt hier, und jetzt in Übereinstimmung mit dem frühen Platon, allein auf ethische Fragen.“[37] Außerdem besteht bei seiner Aufzählung eben jener Fragen die Auffälligkeit, dass er Tugenden wie Tapferkeit und Besonnenheit substantivistisch, Frömmigkeit und Schönheit jedoch adjektivistisch gebraucht. Dieser Sprachgebrauch ist „nun exakt in den platonischen Frühdialogen wieder[zufinden], wo Laches und Charmides substantivistisch nach […] [Tapferkeit] bzw. […] [Besonnenheit] fragen, während Euthyphron und Hippias maior adjektivistisch nach […] [Frömmigkeit] bzw. […] [Schönheit] fragen. Diese auffälligen Übereinstimmungen der Terminologie […] beweisen […], daß Xenophon auch hier rein äußerlich eine Begrifflichkeit übernommen hat, die innerhalb der platonischen Frühdialoge einen wichtigen Gedankenfortschritt hin zur Entwicklung der Ideenlehre markiert und diese zugleich datiert.“[38] Doch vieles weist auch darauf hin, dass sich Xenophon ebenfalls der platonischen Spätschriften als Grundlage für seine Memorabilien bediente, wo es u.a. heißt, dass Sokrates der Auffassung war, „daß jemand, der wisse, was das Wesen der bestehenden Dinge sei, es auch andern klar machen könnte. Wer es aber nicht wisse, bei dem wäre es freilich nicht verwunderlich, daß er sich täuschen ließe und auch andere täusche.“[39]

Im Vergleich dazu heißt es im Phaidros von Platon, dass derjenige, der „andere zwar täuschen will, selbst aber nicht getäuscht werden [möchte], die Ähnlichkeit der Dinge und ihre Unähnlichkeit genau kennen“[40] muss und dass jemand, der „die wahre Beschaffenheit eines jeden Dinges nicht kennt, die größere oder geringere Ähnlichkeit mit diesem Unbekannten in anderen Dingen [nicht] zu unterscheiden“[41] in der Lage ist. Die große Ähnlichkeit im Wortlaut bezeugt, dass sich Xenophon der Gedanken Platons bediente und diese nur etwas abwandelte. Dieses Vorgehen lässt sich auch an anderen Stellen herauslesen. Wiederum in den Memorabilien steht geschrieben, dass die Dialektik beinhalten würde, „daß die Teilnehmer gemeinsam ihre Gedanken austauschen und die Dinge nach verschiedenen Gesichtspunkten einteilen.“ Es lässt sich feststellen, dass diese „Begrifflichkeit […] für Xenophon ganz singulär [ist] und [sie] begegnet [uns] nur hier, sie ist dagegen typisch für Platons dihäretische Dialoge.“[42] So wird beispielsweise im Sophistes die dialektische Wissenschaft als das „Trennen nach Gattungen, dass man weder denselben Begriff für einen andern, noch einen andern für denselben halte“[43], definiert. All dies lässt den Schluss zu, dass man die Ausführungen Xenophons über Sokrates nicht als eigenständiges historisches Zeugnis ansehen kann. Zugleich relativiert sich die Annahme, dass Sokrates als ethischer Begriffsphilosoph anzusehen ist. Vielmehr ist es sehr wahrscheinlich, dass die in den Frühdialogen thematisierte Wesensfrage nach dem Ethischen eng mit der Ideenlehre Platons verknüpft ist, sie also gedanklich auf einen platonischen Ursprung zurückzuführen ist. Denn warum wird diese angebliche Wesensforschung des Sokrates nicht in Platons Frühdialogen Apologie, Kriton, Ion und Hippias minor zur Sprache gebracht, sondern ein Sokrates dargestellt, der ein elenktisches[44] Frageverfahren ausübt? Vielleicht deshalb, weil „Platon […] einen Sokrates [kennt], der Elenktik treibt, ohne von der […] [Wesensfrage] zu wissen“[45]? Exakt. Und eben jener elenktische Sokrates repräsentiert, „wenn überhaupt einer, die platonische Interpretation des historischen Sokrates.“[46] Ganz deutlich wird dies bei Platons Apologie, die berühmt gewordene Verteidigungsrede des Sokrates nach seiner Verurteilung wegen angeblicher Asebie und des Verderbens der Jugend, die als „frei komponiertes Kunstwerk […] im Rahmen des platonischen Gesamtwerkes eine einzigartige Sonderstellung ein[nimmt], weil sie, als einzige aller Schriften, nicht dialogisch, sondern in Form einer Rede konzipiert ist. […] So hat Platon hier die Form der Rede ersichtlich gewählt, um Sokrates […] Gelegenheit zu geben, in eigenem Namen […] über sich selbst sprechen zu lassen. […] Platon will hier eine […] Deutung und Interpretation der historischen Sokratesgestalt geben, die ihm später Symbol und Gefäß für andere, eigene Gedankeninhalte wird.“[47] Dass er um Authentizität bestrebt ist, zeigt sich bereits daran, dass er die Verteidigungsrede gemäß des zeitgenössischen Procederes für Gerichtsverfahren in drei Teile unterteilt: „Sie beginnt mit der eigentlichen Verteidigung […] (Apol. 17a-35d), setzt dann wieder ein, als ihn das Gericht für schuldig erklärt hat und ihm die Möglichkeit gibt, selbst ein Strafmaß vorzuschlagen (Apol. 35e-38b), und endet mit einer Ansprache nach der Bekanntgabe des Todesurteils (Apol. 38c-42a).“ [48]

2.2.1 Die Apologie – Zeugnis der Philosophie des Sokrates

Auch die Tatsache, dass sich in der Apologie viele Übereinstimmungen mit den Fragmenten anderer Sokratiker finden lassen, macht diese zu einer der bedeutendsten historischen Quellen zur Philosophie des Sokrates. Demnach gehörte es zu seiner wichtigsten Tätigkeit, das Wissen anderer Leute zu prüfen, über das sie zu verfügen glaubten. Die Anwendung dieses Ausfrage- und Prüfungsverfahrens, auch Elenktik genannt, wird in der Apologie mehrfach beschrieben. Unter anderem unterzog er einen Staatsmann, der von sich behauptete, weise zu sein, diesem Verfahren. Damit verbunden lässt Platon in der Apologie Sokrates u.a. Folgendes sagen: „Darauf nun versuchte ich ihm zu zeigen, er glaubte zwar weise zu sein, wäre es aber nicht; wodurch ich dann ihm selbst verhaßt ward und vielen der Anwesenden. Indem ich also fortging, gedachte ich bei mir selbst: weiser als dieser Mann bin ich nun freilich. Denn es mag wohl eben keiner von uns beiden etwas Tüchtiges oder Sonderliches wissen; allein dieser doch meint zu wissen, da er nicht weiß, ich aber, wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht. Ich scheine also um dieses wenige doch weiser zu sein als er, dass ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen.“[49] Da er das von ihm gesuchte Wissen von den größten Dingen bei den Menschen, respektive Politikern, Handwerkern und Dichtern, nicht gefunden hätte „habe er es schließlich als Auftrag des Gottes angesehen, die Menschen davon zu überzeugen, daß sie nicht wüßten, was sie zu wissen vermeinten; diesen Auftrag habe er sein Leben lang gehorsam befolgt und sich so den unberechtigten Haß derer zugezogen, die in ihrer falschen Wissensvermeinung widerlegt worden seien.“[50] Eine Bestätigung für diese Wissensfrage lässt sich auch in den Wolken finden, wo Strepsiades auf die Frage seines Sohnes Pheidippides, was er denn von Sokrates lernen könne, antwortet: „Was? – Alle Weisheit, die’s auf Erden gibt! Da wirst du sehn, wie roh, wie dumm du bist!“ Aristophanes jedoch sieht diese Tätigkeit des Sokrates als rhetorisches Mittel an, die Jugend zum Unrecht tun zu motivieren und die göttlichen Autoritäten zu unterwandern.

Doch wie könnte sich dieses negative Bild von Sokrates erklären lassen? Eine bedeutende Ursache dafür mag die „Offenheit des sokratischen Denkens, die in der Mündlichkeit ihren sinnfälligen Ausdruck findet“[51], gewesen sein. Denn so musste man nur „die strenge Ausrichtung der sokratischen Elenktik auf das Problem des Guten übersehen oder übersehen wollen, wie dies, jeder auf seine Weise, Aristophanes, die Ankläger und Polykrates getan haben, und Sokrates erschien unfehlbar als ein unverantwortlicher Schwätzer und Sophist, wenn nicht gar als politischer Agitator, der der Jugend den Glauben an die staatstragenden Werte und Autoritäten nahm und so schließlich mitschuldig war am Desaster der athenischen Politik.“[52] Bei genauerer Untersuchung der von Sokrates ausgeübten Elenktik lässt sich aber feststellen, dass er die Menschen darauf prüfte, ob sie ein Wissen vom Guten besitzen würden – da er dieses Wissen vom Guten aber weder bei anderen noch sich selbst fand, erachtete er wohl „das Wissen des Nichtwissens als angemessene denkerische Grundhaltung und das prüfende Suchen nach dem Sinn des Guten als angemessene denkerische Tätigkeit. Die philosophische Leistung des historischen Sokrates läßt sich demnach dahingehend bestimmen, daß er als erster erkannt und gefordert hat, die Philosophie müsse eine wissenschaftliche Ethik begründen, damit sinnvolles Handeln und also richtiges Leben möglich wäre.“[53] Zum Ideal des aufs Praktische ausgerichteten Philosophierens von Sokrates liest man in der Apologie, dass er sich fragte, „wie ich jedem einzelnen die meines Dafürhaltens größte Wohltat erweisen könnte, mich dessen allein, wie ich behaupte, befleißigt, bemüht, jeden von euch zu bewegen, dass er weder für irgend etwas von dem Seinigen eher sorge, bis er für sich selbst gesorgt habe, wie er immer besser und vernünftiger womöglich werden könnte, noch auch für die Angelegenheiten des Staates eher als für den Staat selbst, und nach derselben Weise auch nur für alles andere sorgen möchte.“[54] Und da er ausschließt, im Besitz der Weisheit zu sein, kann man ihn gewiss nicht als Sophisten bezeichnen.

2.2.1 Xenophon als aussagekräftiger Augenzeuge?

Mag Xenophon in der heutigen Forschung auch als jemand gelten, der, vereinfacht gesagt, mehr bei Platon abgeschrieben hat, als ein eigenständiges Werk über den historischen Sokrates verfasst zu haben, so darf nicht unterschätzt werden, dass er zu Zeiten des Sokrates lebte und auch zu dessen Schülern gehörte. Insofern ist anzunehmen, dass er zumindest als verlässlicher Augenzeuge dessen gelten kann, was Sokrates Tag für Tag in Athen tat.

So schreibt Xenophon: „Überdies lebte er immer in der Öffentlichkeit. Er ging früh in die Wandelhallen und Gymnasien. Wenn sich der Markt füllte, war er dort zu sehen, und die übrige Zeit des Tages war er immer da, wo er voraussichtlich die meisten Leute antraf. Er lehrte auch meistenteils, und wer Lust hatte, konnte [ihm] zuhören.“[55] Zudem ist zu lesen, dass Sokrates „die geringsten Speisen [isst], […] das schlechteste Getränk [trinkt], […] nicht nur einen ärmlichen Mantel [trägt], sondern auch Sommer und Winter den gleichen, und […] ohne Sandalen und Hemd“[56] ist. Diese äußere Beschreibung des Sokrates deckt sich auch mit Platons Aussage, wenn er feststellt, dass „dieser hinaus in ebensolcher Kleidung [ging], wie er sie immer zu tragen pflegt, und […] unbeschuht“[57] ging. Und auch dem Lesen war Sokrates anscheinend nicht abgeneigt. So lässt ihn Xenophon wie folgt zu Wort kommen: „Ich schlage auch die Schätze der alten Weisen auf, die sie in Büchern aufgeschrieben hinterlassen haben, gehe sie gemeinsam mit den Freunden durch, und wenn wir etwas Schönes finden, dann wählen wir es aus.“[58]

Dennoch warnte er davor, das durch Bücher aufgenommenes Wissen das eigene Nachdenken nicht ersetzen könne (Platon, Phaidros 275a-d). Demnach hatte Sokrates einst vernommen, dass der Euthydemos, „viele Schriften von den berühmtesten Dichtern und Sophisten gesammelt [habe]. Daraufhin glaubte er, sich bereits durch seine Weisheit von den Altersgenossen zu unterscheiden, und machte sich große Hoffnungen, sich vor allem durch seine Fähigkeiten im Reden und Handeln hervorzutun.“[59] Euthydemos glaubte nun erklären zu können, was gerecht und ungerecht sei. Doch Sokrates entlarvte laut Xenophon im Gespräch mit diesem sein Nichtwissen, denn nach Sokrates verhelfe „ein schematisches Wissen von Wörtern und Definitionen, wie es in Büchern vermittelt wird und von der äußeren Gestalt her ein klar umgrenztes, festes Wissen suggeriert, […] nicht zu einem wirklichen Wissen von Gerechtigkeit, sondern verführt ohne Anwendung auf die konkrete Situation zu einem Scheinwissen.“[60] Neben diesen Informationen zur Person des Sokrates und den bereits unter Kapitel 2.2 erwähnten, sind die Aussagen über dessen philosophisches Treiben mit großer Vorsicht zu genießen, zumal schon zu beweisen versucht wurde, dass sich Xenophon hierbei offensichtlich im großen Maße der Schriften Platons bediente. Wenn er Sokrates im Gegensatz zu Platon als einen „eher biederen, geradezu penibel rechtschaffenen, höchst konservativen und schulmeisterlichen“[61] Mann beschreibt, stellt sich unwiderruflich die Frage, wie denn eine Persönlichkeit mit solchen Charakteristika eine derartige welthistorische Wirkung entfalten konnte?

2.2.1 Die große weltgeschichtliche Wirkung des Sokrates

Man könnte zu Gunsten des Xenophon argumentieren, dass seine „Schlichtheit und […] stockkonservative Gesinnung […] für die Grobheit seines Sokrates-Bildes verantwortlich seien.“[62] Doch da es sehr wahrscheinlich ist, dass er nicht zum engeren Kreis der Schüler des Sokrates gehörte, von diesen als solcher auch nicht wahrgenommen wurde und in den letzten Lebensjahren des Sokrates wegen einer Verbannung – er unternahm Feldzüge mit dem jüngeren Kyros, der im Peloponnesischen Krieg an der Seite der Spartaner kämpfte – nicht in Athen anwesend war sowie nicht zuletzt nachgewiesen wurde, dass er sich bei seinen Erinnerungen an Sokrates hauptsächlich auf andere Literatur, vornehmlich platonische, stützte, verbleiben viele Fragen bezüglich der historischen Authentizität seiner Schriften. Dagegen kann man Platon eine ausgesprochen übertriebene Sokrates-Darstellung vorhalten, die einer undifferenzierten Philosophenverehrung gleichkommt. Jedoch spricht für ihn, dass er zum engsten Kreis der Schüler des Sokrates gehörte und ihm bereits seit vielen Jahren vor dessen Tod nicht nur persönlich nahestand, sondern auch bei ihm in Athen verweilte. Doch verantwortlich für die welthistorische Wirkung des Sokrates ist sicherlich nicht allein das äußerst schillernde Bild, das Platon von ihm malte, sondern vor allem auch dessen wirkungsmächtige und außergewöhnliche Persönlichkeit. Zudem sind von dessen „grundstürzender Erkenntnis, daß richtiges Handeln und geglücktes Leben ohne ein Wissen vom Guten unmöglich seien, […] nicht nur die Sokratiker aufs stärkste beeindruckt und beeinflußt, sondern auch alle folgenden Philosophen und Philosophenschulen. So ist es wohl verständlich, wenn die antike Philosophiegeschichtsschreibung, beginnend mit Aristoteles, Sokrates als entscheidendes Ereignis begreift und von da an eine neue Epoche des griechischen Denkens datiert.“[63] Dass der Querdenker und Charismatiker Sokrates vielen Leuten mit seiner alles – auch die Grundwerte des Staatswesens – hinterfragenden Art vor den Kopf stoßen musste, wenn er Ihnen den Spiegel des Nichtwissens vorhielt, ist recht gut nachvollziehbar. Und bedenkt man, dass er seine „elenktische Kritik über Jahrzehnte hinweg in unzähligen Gesprächen immer wieder durchschlagend geübt hat in einem überschaubaren Gemeinwesen, das sein politisches Leben in der Hauptsache mündlich zu regeln pflegte, so wird man sich eher darüber wundern müssen, daß Sokrates in Athen so spät politisch anstößig wurde, als daß es überhaupt zu einem Zusammenstoß kam.“[64]

3. Schlussbemerkung

Wie bereits zu erwarten war, kann die Frage nach dem historischen Sokrates nicht eindeutig und abschließend beantwortet werden. Jedoch ist es auf Basis des vorliegenden Quellenmaterials möglich gewesen, sich nach dem Prinzip des Ausschlussverfahrens, was mehr oder weniger plausibel und glaubwürdig ist, dem historischen Sokrates zu nähern. Neben einigen halbwegs gesicherten historischen Eckdaten, wie zu seiner Familie, seinem Militärdienst, seiner Tätigkeit als Ratsherr und seinem Tod, gibt es vor allem vielfältige Informationen über die von ihm praktizierte Philosophie, die es auf ihre Historizität zu untersuchen galt. Dabei wurde deutlich, dass Platon, trotz der merklichen Heroisierung, als glaubwürdigster Überlieferer des historischen Sokrates gelten kann, zumindest auf seine frühen Dialoge Apologie, Kriton, Ion und Hippias minor bezogen. In den späteren Dialogen Platons trat dann mehr und mehr seine eigene Philosophie in den Vordergrund, für die Sokrates fast ausschließlich als Sprachrohr galt. Dagegen liegt die Vermutung nahe, dass sich Xenophon bei seinen Erinnerungen an Sokrates primär nicht auf die eigenen, sondern andere Erinnerungen beruft, respektive auf die Schriften Platons, was insbesondere an dessen Darstellung der sokratischen Philosophie nachgewiesen wurde. Jedoch lassen sich auch bei ihm einige historisch relevante Informationen finden. Zumal sein zutiefst konservativ gemaltes Sokrates-Bild einen heilsamen Kontrast bzw. eine gute Ergänzung zu der überhöhten und legendenhaften Sokrates-Darstellung Platons bildet. Des Weiteren sind die Wolken von Aristophanes ein gutes Beispiel dafür, wie man den Sokrates aufgrund seiner Art des Philosophierens missverstehen konnte. Denn die von ihm betriebene Elenktik, die Kunst des Widerlegens, bot einige Angriffsflächen, um sich unbeliebt zu machen und falsch interpretiert zu werden. Schließlich war es das Wesen dieses Ausfrage- und Prüfverfahrens, den Gesprächspartner durch gezielte Fragestellungen seiner Unwissenheit zu überführen. Sehr dienlich bei diesem Verfahren war sicherlich die ihm von Platon als auch Xenophon zugeschriebene Bescheidenheit und die Einsicht in seine eigene Unwissenheit. Die besondere philosophische Leistung des Sokrates war es gewiss, dass seinem ausschließlich praktischen und mündlichen Wirken das Bestreben innewohnte, das Gute zu erkennen, er also auf die höchsten Werte des menschlichen Tuns ausgerichtet war, worin er die einzige Grundlage für ein richtiges und vernünftiges Handeln sah. Diese Frage nach dem Guten, die bis zum heutigen Tage unbeantwortet blieb, ist sein wahres Vermächtnis an die Nachwelt.

4. Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen:

Aristoteles: Metaphysik, übers. von Adolf Lasson, 2. Aufl., Jena 1924.

Rousseau, Jean-Jacques: Emil oder Über die Erziehung, frei aus dem Französischen übers. von Hermann Denhardt, Neue Ausgabe, Band 2, Leipzig o. J.

Platon: Apologie, in: Platon. Sämtliche Werke, Bd. 1, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Reinbek 2004.

Platon: Der siebente Brief, Übers., Anm. u. Nachw. v. Ernst Howald, Stuttgart 2004.

Platon: Phaidros, in: Platon. Sämtliche Werke, Bd. 2, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Reinbek 2004.

Platon: Sophistes, in: Platon. Sämtliche Werke, Bd. 2, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Reinbek 2004.

Platon: Symposion, in: Platon. Sämtliche Werke, Bd. 2, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Reinbek 2004.

Xenophon: Memorabilien, Symposion, Oikonomikos, Apologie, übers. von Ernst Bux, Stuttgart 1956.

Literatur:

Böhme, Gernot: Der Typ Sokrates, Frankfurt am Main 1988.

Irmscher, Johannes: Sokrates. Versuch einer Biografie, Leipzig 1985.

Kessler, Herbert: Sokrates. Geschichte, Legenden, Spiegelungen, Kusterdingen 1995.

Kniest, Christoph: Sokrates zur Einführung, Hamburg 2003.

Martens, Ekkehard: Sokrates. Eine Einführung, Stuttgart 2004.

Patzer, Andreas: Der Historische Sokrates, Darmstadt 1987.

Taylor, C.C.W.: Sokrates, Freiburg/Basel/Wien 1999.

Fußnoten:

[1] Kessler, Herbert: Sokrates. Geschichte, Legenden, Spiegelungen, Kusterdingen 1995, S. 9.

[2] Ebd. S. 9.

[3] Horn, Christoph: Sokrates: Philosophisches Nichtwissenund Tugendethik, in: Der Brockhaus Multimedial, BibliographischesInstitut & F. A. Brockhaus AG, Mannheim 2005.

[4] Kniest, Christoph: Sokrates zur Einführung, Hamburg 2003, S. 13.

[5] Ebd. S. 13.

[6] Irmscher, Johannes: Sokrates. Versuch einer Biografie, Leipzig 1985, S. 6.

[7] Rousseau, Jean-Jacques: Emil oder Über die Erziehung, frei aus dem Französischen übers. v. Hermann Denhardt, Neue Ausgabe, Band 2, Leipzig o. J., S. 219-220.

[8] Taylor, C.C.W.: Sokrates, Freiburg/Basel/Wien 1999, S. 108.

[9] Ebd. S. 108.

[10] Kniest, Christoph: Sokrates zur Einführung, Hamburg 2003, S. 14.

[11] Ebd. S. 14.

[12] Patzer, Andreas: Der Historische Sokrates, Darmstadt 1987, S. 19.

[13] Ebd. S. 21.

[14] Ebd. S. 21.

[15] Kniest, Christoph: Sokrates zur Einführung, Hamburg 2003, S. 17.

[16] Patzer, Andreas: Der Historische Sokrates, Darmstadt 1987, S. 3.

[17] Ebd. S. 3.

[18] Ebd. S. 2.

[19] Martens, Ekkehard: Sokrates. Eine Einführung, Stuttgart 2004, S. 7.

[20] Ebd. S. 13.

[21] Ebd. S. 13.

[22] Martens, Ekkehard: Sokrates. Eine Einführung, Stuttgart 2004, S. 13.

[23] Kniest, Christoph: Sokrates zur Einführung, Hamburg 2003, S. 8-9.

[24] Ebd. S. 9.

[25] Xen. Mem. I, 1, 17 f.

[26] Kniest, Christoph: Sokrates zur Einführung, Hamburg 2003, S. 9.

[27] 7. Brief 325a.

[28] Martens, Ekkehard: Sokrates. Eine Einführung, Stuttgart 2004, S. 13.

[29] Kniest, Christoph: Sokrates zur Einführung, Hamburg 2003, S. 16.

[30] Patzer, Andreas: Der Historische Sokrates, Darmstadt 1987, S. 434.

[31] Kniest, Christoph: Sokrates zur Einführung, Hamburg 2003, S. 17.

[32] Ebd. S. 17.

[33] Met. XIII, 4, 1078 b 27.

[34] Patzer, Andreas: Der Historische Sokrates, Darmstadt 1987, S. 435.

[35] Ebd. S. 435.

[36] Mem. I, 1, 16.

[37] Patzer, Andreas: Der Historische Sokrates, Darmstadt 1987, S. 440.

[38] Ebd. S. 441.

[39] Mem. IV, 6, 1.

[40] Phaidros 262a.

[41] Phaidros 262a.

[42] Patzer, Andreas: Der Historische Sokrates, Darmstadt 1987, S. 439.

[43] Sophistes 253d.

[44] Anm.: Das bedeutet, dass ein Sachverhalt durch Aufzeigen von Widersprüchen geprüft wird.

[45]Patzer, Andreas: Der Historische Sokrates, Darmstadt 1987, S. 444.

[46] Ebd. S. 444.

[47] Ebd. S. 442-443.

[48] Kniest, Christoph: Sokrates zur Einführung, Hamburg 2003, S. 62.

[49] Apologia 21c-e.

[50] Patzer, Andreas: Der Historische Sokrates, Darmstadt 1987, S. 443.

[51] Patzer, Andreas: Der Historische Sokrates, Darmstadt 1987, S. 450.

[52] Ebd. S. 450.

[53] Ebd. S. 449.

[54] Apol. 36c.

[55] Mem. I, 1, 10.

[56] Mem. I, 6, 2.

[57] Symp. 220b.

[58] Mem. I, 6, 14.

[59] Mem. IV, 1, 2.

[60] Martens, Ekkehard: Sokrates. Eine Einführung, Stuttgart 2004, S. 51.

[61] Böhme, Gernot: Der Typ Sokrates, Frankfurt am Main 1988, S. 30.

[62] Böhme, Gernot: Der Typ Sokrates, Frankfurt am Main 1988, S. 30.

[63] Patzer, Andreas: Der Historische Sokrates, Darmstadt 1987, S. 451.

[64] Ebd. S. 451.